Der Zugspitz Ultratrail schreibt seine eigenen Geschichten. Zentral in der 9. Auflage: Unwetter, Absagen, Wut, Zusammenhalt, Hitze, Schweiß, Tränen, Stolz und endlose Freude.
Es ist schwül, deutlich über 30 Grad, Unwetter ist angesagt und die Wolken hängen schwer. Nach rund 1.200 absolvierten Höhenmetern und anschließend über 25 Kilometern in der Ebene geht es schon wieder steil bergan. Ich habe noch nie so viele starke und erfahrene Läufer am Rande des Kollaps gesehen. Die meisten haben wohl in der Ebene überpaced. Es zieht sich, doch meine Taktik scheint aufzugehen: auf der Geraden Körner sparen, Anstiege sauber durchziehen, Abstiege entweder laufen lassen oder überleben, am Ende Tempo machen.
24h vorher: Es ist heiß in Grainau, während immer mehr Sportler über die Expo schlendern und kaufen, fachsimpeln, erzählen. Der ZUT ist ein großes Familientreffen. Ein Thema schwingt bei vielen mit: Für Samstag ist Gewitter angesagt. Und Gewitter in alpinen Bergen ist nicht zu vergleichen mit Regen im Mittelgebirge. Am Nachmittag schweigt der Buschfunk rum, dass die Distanzen Ultratrail (102,5 km) und Supertrail XL (82 km) abgesagt seien. Alle entsprechenden Teilnehmer*innen werden auf den Supertrail (64 km) gesetzt. Die Stimmung ist seltsam, die Hitze steht, die Schwüle wird schwerer. Es hängt was in der Luft – Emotion und Wetter. Das spürt jeder. Dann die offiziellen Nachrichten per Mail, SMS und Social Media. Die Gerüchte stimmen.
Race Briefing. Heute keine Vorabend-Party mit lokaler Peitscheneinlage zur Heimatmusik. Nach den obligatorischen Grußworten stehen die aktuellen Infos im Mittelpunkt. Ganz groß: Streckenchef Martin Hafenmair lädt alle Unzufriedenen ein: „Redet mit mir, diskutiert mit mir, beschimpft mich – das ist ok für mich. Aber den Mist in den sozialen Medien toleriere ich nicht.“ Lautester Beifall, 90% der Läufer*innen stehen hinter der Entscheidung. Nur ein paar Deppen verstehen es einfach nicht und pöbeln in den Netzwerken weiter.
Samstagmorgen. Der Start in Leutasch Weidach wird spannend. 1.500 Starter statt der eigentlichen 500. Aber: läuft. Taschenkontrolle läuft reibungslos, Aufstellung in zwei Startblöcken, Start von 10h auf 8h vorverlegt, die Stimmung ist gut, das Wetter noch hervorragend, aber auch schon ziemlich warm.
Nach 4km, die vorne sehr zügig durchgezogen werden, geht es 800 Meter hoch zum Scharnitzjoch. Was ein Ausblick. Noch halten alle mit, es ist angenehm frisch oben. Sofort geht es wieder runter. Als erstes über ein rund 1 Kilometer langes Schneefeld. Viele laufen johlend mit langen Sprüngen durch die rutschig pappige Weiße, andere investieren Zeit, Nerven und viel Energie beim vorsichtigen Abwärtsrutschen. Beim folgenden Matschstück haut es mich frontal in die braune Suppe. Nichts passiert, eingesaut, weiter. Über die Schnee-Matsch-Kombination kommen ohnehin nicht viele ohne Bodenlandung.
Ich bin spontan verliebt in die folgenden Trails, die Ruhe, den Blick, die Luft. Trotzdem schreddert der Abstieg die Oberschenkel, bevor unten endlich die erste Verpflegungsstelle erreicht wird. Die Schwüle hat uns wieder. Es drückt. Wir sind längst klitschnass.
In der Ebene werde ich ungewohnt oft überholt. „Kontrolle. Bleib beim Plan!“ Die meisten werde ich bald schon wiedersehen. Nach den zähen Kilometern gerade aus geht es am Ferchensee und an Badegästen vorbei. Der Himmel zieht sich immer weiter zu. Mein Fehler: Ich glaube, dass auf dem langen Stück zwischen dem aktuellen VP 3 und VP 4 wie bisher Bäche oder Seen kommen werden und schiebe es auf, den Kopf ins Wasser zu halten. Leider bleibt es trocken. Kein Wasser mehr weit und breit. Über die Elmauer Alm geht nochmal steil bergab und gleich bergauf zur Partnnachalm. Kollektives Überhitzen. Der Anstieg macht die meist männlichen Läufer im vorderen Drittel fertig. Erleichterung erst bei VP 8. Wasser, Trinken, Essen.
Ab jetzt geht meine Rechnung voll auf: Vor den letzten 1200 Höhenmetern und dem finalen 1.300 HM Abstieg fühle ich mich frisch und runtergekühlt. Runners High. Gleichzeitig wird es finster am Himmel. Zeitgefühl ist längs weg. 14:00 sagt die Uhr. Wow, das Sub-10-Stunden-Ziel könnte erreicht werden. Hoffentlich hält das Wetter.
Es geht hoch. Hoch. Hoch. Die Grüppchen haben sich extrem ausgedünnt. Aus Forstwirtschaftswegen werden Trails und enge Serpentinen. Bis endlich, nach ewigem Aufstieg, die erste Höhe erreicht ist. Hier eine kleine Routen-Änderungen aufgrund der Schneelage und Wetteraussicht, so dass es über Schnee und Matsch zur Spitze geht, aber über die breiten Wege wieder hinunter. Tiefdunkler Himmel. Es ist kalt. Der Blick ins karge Hochgebirge ist überwältigend.
Bergab wieder das Mantra: „Bleib bei dir, bleib aufmerksam!“ Viele lose Steine am Boden. Es läuft sich schnell, die Stöcke bleiben am Start für Traktion und Kontrolle. Nach dem letzten VP dann ein extrem technischer Serpentinen-Trail ins Tal. Ich laufe komplett alleine und gebe Vollgas. Im unteren Drittel überhole ich diverse Basetrail XL Starter. Ein einzelner Läufer überholt mich trotzdem, wir springen recht leichtfüßig an einer verstörten Gruppe Trekking-Ausflügler vorbei, die fassungslos ruft: „Ihr seid doch verrückt!“ Wir antworten im Chor: „Danke!“ Ich verbuche das mal als Lob.
Nur noch wenige Minuten und der Trail endet in einer Straße. Die mündet in Grainau. Der Weg durchs Dorf. Abbiegen zum Musikpavillon. Dort das Ziel!
Ich bin fertig.
Glücklich. Geflasht. Geflutet von Emotionen und Endorphinen.
Die Leuchtschrift sagt 9:25h. Verdammt geile Zeit! Deutlich sub 10!
Der Zugspitz Ultratrail 2019 ist Geschichte.
5 Minuten nachdem ich im Ziel bin, setzt der Wolkenbruch ein. Zum Glück nur 15 Minuten lang.
Die folgenden Läufer sind nass aber glücklich. Sie kommen einzeln, in Gruppen, noch stundenlang. Der letzte Läufer erreicht nach 15:56:51 das Ziel. Es ist längst stockdunkel.
Hätte der ZUT 2019 trotz Unwetterwarnung wie ursprünglich geplant stattfinden können? Wahrscheinlich. Trotzdem war die getroffene Entscheidung 100% richtig. Noch nie habe ich so viele Läufer gesehen, die abbrechen mussten, weil Hitze, Schwüle und der anspruchsvolle Trail sie fertig gemacht haben. Auch ohne 102 und 82 Kilometer. Hut ab vor der Chuzpe der Organisatoren und der Flexibilität!
2020 wird der Zugspitz Ultratrail 10. Ich bin gespannt, welche Geschichte das Jubiläum schreiben wird. Klar ist: Ich werde dabei sein!
(Alle Fotos (c) PLAN B / Markus Frühmann & Kelvin Trautman)
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